Aanvullende gegevens:
R. Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, vierde editie, Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn (1912); 24 pp.
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Stetigkeit

und

irrationale Zahlen


Von

Richard Dedekind
Professor an der technischen Hochschule in Braunschweig




Inhalt.

Seite
Vorwort 1
§. 1. Eigenschaften der rationalen Zahlen 5
§. 2. Vergleichung der rationalen Zahlen mit den Puncten einer geraden Linie 7
§. 3. Stetigkeit der geraden Linie 9
§. 4. Schöpfung der irrationalen Zahlen 12
§. 5. Stetigkeit des Gebietes der irrationalen Zahlen 17
§. 6. Rechnungen mit reellen Zahlen 19
§. 7. Infinitesimal-Analysis 22




Stetigkeit und irrationale Zahlen


Die Betrachtungen, welche den Gegenstand dieser kleinen Schrift bilden, stammen aus dem Herbst des Jahres 1858. Ich befand mich damals als Professor am eidgenössischen Polytechnicum zu Zürich zum ersten Male in der Lage, die Elemente der Differentialrechnung vortragen zu müssen, und fühlte dabei empfindlicher als jemals frührer den Mangel einer wirklich wissenschaftlichen Begründung der Arithmetik. Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an einen festen Grenzwerth und namentlich bei dem Beweise des Saßes, daß jede Größe, welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiß einem Grenzwerth nähern muß, nahm ich meine Zuflucht zu geometrischen Evidenzen. Auch jeßt halte ich solches Heranziehen geometrischer Anschauung bei dem ersten Unterrichte in der Differentialrechnung vom didaktischen Standpuncte aus für außerordentlich nüßlich, ja unentbehrlich, wenn man nich gar zu viel Zeit verlieren will. Aber daß diese Art der Einführung in die Differentialrechnung keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann, wird wohl Niemand leugnen. Für mich war damals dies Gefühl der Unbefriedigung ein so überwältigendes, daß ich den festen Entschluß faßte, so lange nachzudenken, bis ich eine rein arithmetische und völlig strenge Begründung der Principien der Infinitesimalanalysis gefunden haben würde. Man sagt so häufig, die Differentialrechnung beschäftige sich mit den stetigen Größen, und doch wird [pag. 2] nirgends eine Erklärung von dieser Stetigkeit gegeben, und auch die strengsten Darstellungen der Differentialrechnung gründen ihre Beweise nicht auf die Stetigkeit, sondern sie appelliren entweder mit mehr oder weniger Bewußtsein an geometrische, oder durch die Geometrie veranlaßte Vorstellungen, oder aber sie stüßen sich auf solche Säße, welche selbst nie rein arithmetisch bewiesen sind. Zu diesen gehöhrt z.B. der oben erwähnte Saß, und eine genauere Untersuchung überzeugte mich, daß dieser oder auch jeder mit ihm äequivalente Saß gewissermaßen als ein hinreichendes Fundament für die Infinitesimalanalysis angesehen werden kann. Es kam nur noch darauf an, seinen eigentlichen Ursprung in den Elementen der Arithmetik zu entdecken und hiermit zugleich eine wirckliche Definition von dem Wesen der Stetigkeit zu gewinnen. Dies gelang mir am 24. November 1858, und wenige Tage darauf theilte ich das Ergebniß meines Nachdenkens meinem theuren Freunde Durège mit, was zu einer langen und lebhaften Unterhaltung führte. Später habe ich wohl dem einem oder anderen meiner Schüler diese Gedanken über eine Wissenschaftliche Begründung der Arithmetik auseinandergeseßt, auch hier in Braunschweig in dem wissenschaftlichen Verein der Professoren einen Vortrag übe diese Gegenstand gehalten, aber zu einer eigentlichen Publication konnte ich mich nicht recht entschließen, weil erstens die Darstellung nicht ganz leicht, und weil außerdem die Sache so wenig fruchtbar ist. Indessen hatte ich doch schon halb und halb daran gedacht, dieses Thema zum Gegenstande dieser Gelegenheitsschrift zu wählen, als vor wenigen Tagen, am 14. März, die Abhandlung: ,,Die Elemente der Functionenlehre'', von E. Heine (Crelle's Journal, Bd. 74) durch die Güte hochverehrten Verfassers in meine Hände gelangte und mich in meinem Entschlusse bestärkte. Dem Wesen nach stimme ich zwar vollständig mit dem Inhalte dieser Schrift überein, wie es ja nicht anders sein kann, aber ich will freimüthig gestehen, daß meine Darstellung mit der Form nach einfacher zu sein und den eigentlichen [pag. 3] Kernpunct präciser hervorzuheben scheint. Und während ich an diesem Vorwort schreibe (20. März 1872), erhalte ich die interessante Abhandlung: ,,Ueber die Ausdehnung eines Saßes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen'', von G. Cantor (Math. Annalen von Clebsch und Neumann, Bd. 5), für welche ich dem scharfsinnigen Verfasser meinen besten Dank sage. Wie ich bei raschem Durchlesen finde, so stimmt das Axiom in §. 2 derselben, abgesehen von der äußeren Form der Einkleidung, vollständig mit dem überein, was ich unten in §. 3 als das Wesen der Stetigkeit bezeichne. Welchen Nußen aber die wenn auch nur begriffliche Unterscheidung von reellen Zahlgrößen noch höherer Art gewähren wird, vermag ich gerade nach meiner Auffassung des in sich volkommenen reellen Zahlgebietes noch nicht zu erkennen. [pag. 4] [pag. 5]



§. 1.

Eigenschaften der rationalen Zahlen.

Die Entwicklung der Arithmetik der rationalen Zahlen wird hier zwar vorausgeseßt, doch halte ich es für gut, einige Hauptmomente ohne Discussion hervorzuheben, nur um den Standpunct von vornherien zu bezeichnen, den ich im Folgenden einnehme. Ich sehe die ganze Arithmetik als eine nothwendige oder wenigstens natürliche Folge des einfachsten arithmetischen Actes, des Zählen, an, und das Zählen selbst ist nichts Anderes als die successive Schöpfung der unendlichen Reihe der positiven ganzen Zahlen, in welcher jedes Individuum durch das unmittelbar vorhergehende definirt wird; der einfachste Act ist der Uebergang von einem schon erschaffenen Individuum zu dem darauf folgenden neu zu erschaffenden. Die Kette dieser Zahlen bildet an sich schon ein überaus nüßliches Hüfsmittel für den menschlichen Geist, und sie bietet einen erschöpflichen Reichtum an merkwürdigen Geseßen dar, zu welchen man durch die Einführung der vier arithmetischen Grundoperationen gelangt. Die Addition ist die Zusammenfassung einer beliebigen Wiederholung des obigen einfachsten Actes zu einem einzigen Acte, und aus ihr entspringt auf dieselbe Weise die Multiplication. Während diese beide Operationen stets ausführbar sind, zeigen die umgekehrten Operationen, die Subtraction und Division, nur eine beschränkte Zulässigkeit. Welches nun auch die nächste Veranlassung gewesen sein mag, welche Vergleichungen oder Analogieen mit Erfahrungen, Anschauungen dazu geführ [pag. 6] haben mögen, bleibe dahin gestellt; genug, gerade diese Beschränktheit in der Ausführbarkeit der indirecten Operationen ist jedesmal die eigentliche Ursache eines neuen Schöpfungsactes geworden; so sind die negativen und gebrochenen Zahlen durch den menschlichen Geist erschaffen, und es ist dem System aller rationalen Zahlen ein Instrument von unendlich viel größerer Volkommenheit, welche ich an einem anderen Orte 1) als Merkmal eines Zahlkörpers bezeichnet habe, und welche darin besteht, daß die vier Grundoperationen mit je zwei Individuen in R stets wieder ein bestimmtes Individuum in R ist, wenn man den einzigen Fall der Division durch die Zahl Null ausnimmt.
Für unseren nächsten Zweck ist aber noch wichtiger eine andere Eigenschaft des Systems R, welche man dahin aussprechen kann, daß das System R ein wohlgeordnetes, nach zwei entgegengeseßten Seiten hin unendliches Gebiet von einer Dimension bildet. Was damit gemeint sein soll, ist durch die Wahl der Ausdrücke, welche geometrischen Vorstellungen entlehnt sind, hinreichend angedeutet; um so nothwendiger ist es, die entsprechenden rein arithmetischen Eigenthümlichkeiten hervorzuheben, damit es auch nicht einmal den Anschein behält, als bedürfte die Arithmetik solcher ihr fremden Vorstellungen.
Soll ausgedrückt werden, daß die Zeichen a und b eine und dieselbe rationale Zahl bedeuten, so seßt man sowohl a = b wie b = a. Die Verschiedenheit zweier rationalen Zahlen a, b zeigt sich darin, daß die Differenz a = b entweder einen positiven oder einen negativen Wehrt hat. Im ersten Falle heißt a größer als b, b kleiner als a, was auch durch die Zeichen a > b, b < a [pag. 7] angedeutet wird 2). Da im zweiten Falle b - a einen positiven Wehrt hat, so ist b > a, a < b. Hinsichtlich dieser doppelten Möglichkeit in der Art der Verschiedenheit gelten nun folgende Geseße.
I. Ist a > b, und b > c, so ist a > c. Wir wollen jedesmal, wenn a, c zwei verschiedene (oder ungleiche) Zahlen sind, und wenn b größer als die eine, kleiner als die andere ist, ohne Scheu vor dem Anklang an geometrische Vorstellungen dies kurz so ausdrücken: b liegt zwischen den beiden Zahlen a, c.
II. Sind a, c zwei verschiedene Zahlen, so giebt es immer unendlich viele verschiedene Zahlen b, welche zwischen a, c liegen.
III. Ist a ein bestimmte Zahl, so zerfallen alle Zahlen des Systems R in zwei Classen, A1 und A2, deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Classe A1 umfaßt alle Zahlen a1, welche < a sind, die zweite Classe A2 umfaßt alle Zahlen a2 welche > a sind; die Zahl a selbst kann nach Belieben der ersten oder der zweiten Classe zugetheilt werden, und sie ist dann entsprechend die größte Zahl der ersten oder die kleinste Zahl der zweiten Classe. In jedem Falle ist die Zerlegung des Systems R in die beiden Classen A1, A2 von der Art, daß jede Zahl der ersten Classe A1 kleiner als jede Zahl der zweiten Classe A2 ist.


§. 2.

Vergleichung der rationalen Zahlen mit den Puncten einer geraden Linie.

Die soeben hervorgehobenen Eigenschaften der rationalen Zahlen erinnern an die gegenseitigen Lagenbeziehungen zwischen den Puncten einer geraden Linie L. Werden die beiden in ihr existirenden entgegengeseßten Richtungen durch ,,rechts'' und ,,links'' [pag. 8] unterschieden, und sind p, q zwei verschiedene Puncte, so liegt entweder p rechts von q, und gleichzeitig q links von p, oder umgekehrt, es liegt q rechts von p, und gleichzeitig p links von q. Ein dritter Fall ist unmöglich, wenn p, q wirklich verschiedene Puncte sind. Hinsichtlich dieser Lagenverschiedenheit bestehen folgende Geseße.
I. Liegt p rechts von q, und q wieder rechts von r, so liegt auch p rechts von r; und man sagt, daß q zwischen den Puncten p und r liegt.
II. Sind p, r zwei verschiedene Puncte, so giebt es immer unendlich viele Puncte q, welche zwischen p und r liegen.
III. Ist p ein bestimmter Punct in L, so zerfallen alle Puncte in L in zwei Classen, P1, P2, deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Classe P1 umfaßt alle die Puncte p1, welche links von p liegen, und die zweite Classe P2 umfaßt alle die Puncte p2, welche rechts von p liegen; der Punct p selbst kann nach Belieben der ersten oder der zweiten Classe zugetheilt werden. In jedem Falle ist die Zerlegung der Geraden L in die beiden Classen P1, P2 von der Art, daß jeder Punct der ersten Classe P1 links von jedem Puncte der zweiten Classe P2 liegt.
Diese Analogie zwischen den rationalen Zahlen und den Puncten einer Geraden wird bekanntlich zu einem wirklichen Zusammenhange, wenn in der Geraden ein bestimmter Anfangspunct oder Nullpunct o und eine bestimmte Längeneinheit zur Ausmessung der Strecken gewählt wird. Mit Hülfe der leßteren kann für jede rationale Zahl a eine entsprechende Länge construirt werden, und trägt man dieselbe von dem Puncte o aus nach rechts oder links auf der Geraden ab, je nachdem a positiv oder negativ ist, so gewinnt man einen bestimmten Endpunct p, welcher als der der Zahl a entsprechende Punct bezeichnet werden kann; der rationalen Zahl Null entspricht der Punct o. Auf diese Weise entspricht jeder rationalen Zahl a, d.h. jedem Individuum in R, ein und nur ein Punct p, d.h. ein Individuum in L. [pag. 9] Entsprechen den beiden Zahlen a, b resp. die beiden Puncte p, q und ist a > b, so liegt p rechts von q. Den Geseßen I, II, III des vorigen Paragraphen entsprechen vollständig die Geseße I, II, III des jeßigen.


§. 3.

Stetigkeit der geraden Linie.

Von der größten Wichtigheit ist nun aber die Thatsache, daß es in der Geraden L unendlich viele Puncte giebt, welche keiner rationalen Zahl entsprechen. Entspricht nämlich der Punct p der rationalen Zahl a, so ist bekanntlich die Länge op commensurabel mit der bei der Construction benußten unabänderlichen Längeneinheit, d.h. es giebt eine dritte Länge, eine sogenanntes gemeinschafliches Maß, von welcher diese beiden Längen ganze Vielfache sind. Aber schon die alten Griechen haben gewußt und bewiesen daß es Längen giebt, welche mit einer gegebenen Längeneinheit incommensurabel sind, z.B. die Diagonale des Quadrats, dessen Seite die Längeneinheit ist. Trägt man eine solche Länge von dem Puncte o aus auf der Geraden ab, so erhält man einen Endpunct, welcher keiner rationalen Zahl entspricht. Da sich ferner leicht beweisen läßt, daß es unendlich viele Längen giebt, welche mit der Längeneinheit incommensurabel sind, so können wir behaupten: Die Gerade L ist unendlich viel reicher an Punct-Individuen, als das Gebiet R der rationalen Zahlen an Zahl-Individuen.
Will man nun, was doch der Wunsch ist, alle Erscheinungen in der Geraden auch arithmetisch verfolgen, so reichen dazu die rationalen Zahlen nicht aus, und es wird daher unumgänglich nothwendig, das Instrument R, welches durch die Schöpfung der rationalen Zahlen construirt war, wesentlich zu verfeinern durch eine Schöpfung von neuen Zahlen der Art, daß das Gebiet der Zahlen dieselbe Stetigkeit gewinnt, wie die gerade Linie. [pag. 10]
Die bisherigen Betrachtungen sind Allen so bekannt und geläufig, daß Viele ihre Wiederholung für sehr überflüssig erachten werden. Dennoch hielt ich diese Recapitulation für nothwendig, um die Hauptfrage gehörig vorzubereiten. Die bisher übliche Einführung der irrationalen Zahlen knüpft nämlich geradezu an den Begriff der extensiven Größen an -- welcher aber selbst nirgends streng definirt wird -- und erklärt die Zahl als das Resultat der Messung einer solchen Größe durch eine zweite gleichartige 3). Statt dessen fordere ich, daß die Arithmetik sich aus sich selbst heraus entwickeln soll. Daß solche Anknüpfungen an nicht arithmetische Vorstellungen die nächste Veranlassung zur Erweiterung des Zahlbegriffes gegeben haben, mag in Allgemeinen zugegeben werden (doch ist dies bei der Einführung der complexen Zahlen entschieden nicht der Fall gewesen); aber hierin liegt ganz gewiß kein Grund, diese fremdartigen Betrachtungen selbst in die Arithmetik, in die Wissenschaft von den Zahlen aufzunehmen. Sowie die negativen und gebrochenen rationalen Zahlen durch eine freie Schöpfung hergestellt, und wie die Geseße der Rechnungen mit diesen Zahlen auf die Geseße der Rechnungen mit ganzen positiven Zahlen zurückgeführ werden müssen und können, ebenso man dahin zu streben, daß auch die irrationalen Zahlen durch die rationalen Zahlen allein vollständig definirt werden. Nur das Wie? bleibt die Frage.
Die obige Vergeleichung des Gebietes R der rationalen Zahlen mit einer Geraden hat zu der Erkenntniß der Lückenhaftigkeit , Unvollständigkeit oder Unstetigkeit des ersteren geführt, während wir der Geraden Vollständigkeit, Lückenlosigkeit oder Stetigkeit zuschreiben. Worin besteht denn nun eigentlich diese Stetigkeit? In [pag. 11] der Beantwortung dieser Frage muß Alles enthalten sein, und nur durch sie wird man eine wissenschaftliche Grundlage für die Untersuchung aller stetigen Gebiete gewinnen. Mit vagen Reden über den ununterbrochenen Zusammenhang in den kleinsten Theilen ist natürlich nichts erreicht; es kommt darauf an, ein präcises Werkmal der Stetigkeit anzugeben, welches als Basis für wirckliche Deductionen gebraucht werden kann. Lange Zeit habe ich vergeblich darüber nachgedacht, aber endlich fand ich, was ich suchte. Dieser Fund wird von verschiedenen Personen vielleicht verschieden beurtheilt werden, doch glaube ich, daß die Meisten seinen Inhalt sehr trivial finden werden. Er besteht im Folgenden. Im vorigen Paragraphen ist darauf aufmerksam gemacht, daß jeder Punct p der Geraden eine Zerlegung derselben in zwei Stücke von der Art hervorbringt, daß jeder Punct des einen Stückes links von jedem Puncte des anderen liegt. Ich finde nun das Wesen der Stetigkeit in der Umkehrung, also in dem folgenden Princip:
,,Zerfallen alle Puncte der Geraden in zwei Classen von der Art, daß jeder Punct der ersten Classe links von jedem Puncte der zweiten Classe liegt, so existirt ein und nur ein Punct, welcher diese Eintheilung aller Puncte in zwei Classen, die Zerschneidung der Geraden in zwei Stücke hervorbringt.''
Wie schon gesagt, glaube ich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Jedermann die Wahrheit dieser Behauptung sofort zugeben wird; die meisten Leser werden sehr enttäuscht sein, zu vernehmen, daß durch diese Trivialität das Geheimniß der Stetigkeit enthüllt sein soll. Dazu bemerke ich Folgendes. Es ist mir sehr lieb, wenn Jedermann das obige Princip so einleuchtend findet und so übereinstimmend mit seinen Vorstellungen von einer Linie; denn ich bin außer Stande, irgend einen Beweis für seine Richtigkeit beizubringen, und Niemand ist dazu im Stande. Die Annahme dieser Eigenschaft der Linie ist nichts als ein Axiom, durch welches wir erst der Linie ihre Stetigkeit zuerkennen, durch [pag. 12] welches wir die Stetigkeit in die Linie hineindenken. Hat überhaupt der Raum eine reale Existenz, so braucht er doch nicht nothwendig stetig zu sein; unzählige seiner Eigenschaften würden dieselben bleiben, wenn er auch unstetig wäre. Und wüßten wir gewiß, daß der Raum unstetig wäre, so könnte uns doch wieder nichts hindern, falls es uns beliebte, ihn durch Ausfüllung seiner Lücken in Gedanken zu einem stetigen zu machen; diese Ausfüllung würde aber in einer Schöpfung von neuen Punct-Individuen bestehen und dem obigen Princip gemäß auszuführen sein.


§. 4.

Schöpfung der irrationalen Zahlen.

Durch die leßten Worte ist schon hinreichend angedeutet, auf welche Art das unstetige Gebiet R der rationalen Zahlen zu einem stetigen vervollständigt werden muß. In §. 1 ist hervorgehoben (III) daß jede rationale Zahl a eine Zerlegung des Systems R in zwei Classen A1, A2 von der Art hervorbringt, daß jede Zahl a1 der ersten Classe A1 kleiner ist, als jede Zahl a2 der zweiten Classe A2; die Zahl a ist entweder die größte Zahl der Classe A1, oder die kleinste Zahl der Classe A2. Ist nun irgend eine Eintheilung des Systems R in zwei Classen A1, A2 gegeben, welche nur die characteristische Eigenschaft besißt, daß jede Zahl a1 in A1 kleiner ist, als jede Zhal in a2 in A2, so wollen wir der Kürze halber eine solche Eintheilung einen Schnitt nennen und mit (A1, A2) bezeichnen. Wir können dann sagen, daß jede rationale Zahl a einen Schnitt oder eigentlich zwei Schnitte hervorbringt, welche wir aber nicht als wesentlich verschieden ansehen wollen; dieser Schnitt hat außerdem die Eigenschaft, daß entweder unter den Zahlen der erste Classe eine größte, oder unter den Zahlen der zweiten Classe eine kleinste existirt. Und umgekehrt, besißt ein Schnitt auch diese Eigenschaft, so wird er durch diese grßte oder kleinste rationale Zahl hervorgebracht. [pag.13]
Aber man überzeugt sich leicht, daß auch unendlich viele Schnitte existiren, welche nicht durch rationale Zahlen hervorgebracht werden. Das nächstliegende Beispiel ist folgendes.
Es sei D eine positive ganze Zahl, aber nicht das Quadrat einer ganzen Zahl, so giebt es einen positive ganze Zahl von der Art, daß
2 < D < ( + 1)2
wird.
Nimmt man in die zweite Classe A2 jede positive rationale Zahl a2 auf, deren Quadrat > D ist, in die erste Classe A1 aber alle anderen rationalen Zahlen a1, so bildet diese Eintheilung einen Schnitt (A1, A2), d.h. jede Zahl a1 ist kleiner als jede Zahl a2. Ist nämlich a1 = 0 oder negativ, so ist a1 schon aus diesem Grund kleiner als jede Zahl a2, weil diese zufolge der Definition positiv ist; ist aber a1 positiv, so ist iht Quadrat < D, und folglich ist a1 kleiner als jede positive Zahl a2, deren Quadrat > D ist.
Dieser Schnitt wird aber durch keine rationale Zahl hervorgebracht. Um dies zu beweisen, muß vor Allem gezeigt werden, daß es keine rationale Zahl giebt, deren Quadrat = D ist. Obgelich dies aus den ersten Elementen der Zahlentheorie bekannt ist, so mag doch hier den folgenden indirecte Beweis Plaß finden. Giebt es eine rationale Zahl, deren Quadrat = D ist, so giebt es auch zwei positive ganze Zahlen, t, u, welche der Gleichung
t2 - Du2 = 0
genuügen, und man darf annehmen, daß u die kleinste positive ganze Zahl ist, welche die Eigenschaft besißt, daß ihr Quadrat durch multiplication mit D in das Quadrat einer ganzen Zahl t verwandelt wird. Da nun offenbar
u < t < ( + 1)u
ist, so wird die Zahl
u' = t - u

[pag. 14]
eine positive ganze Zahl, und zwar kleiner als u. Seßt man ferner
t' = Du - t,
so wird t' ebenfalls eine positive ganze Zahl, und er ergiebt sich
t'2 - Du'2 = (2 - D)(t2 - Du2) = 0,
was mit der Annahme über u im Widerspruch steht.
Mithin ist das Quadrat einer jeden rationalen Zahl x enweder < D oder > D. Hieraus folgt nun leicht, daß es weder in der Classe A1, noch in der Classe A2 eine kleinste Zahl giebt. Seßt man nämlich
y = [x(x2 + 3D)]/[3x2 + D],
so ist
y - x = [2x(D - x2]/[3x2 + D]
und
y2 - D = (x2 - D)3/(3x2 + D)2.
Nimmt man hierin für x eine positive Zahl aus der Classe A1, so ist x2 < D, und folglich wird y > x, und y2 < D, also gehört y ebenfalls der Classe A1 an. Seßt man aber für x eine Zahl aus der Classe A2, so ist x2 > D, und folglich wird y < x, y > 0, und y2 > D, also gehört y ebenfalls der Classe A2 an. Dieser Schnitt wird daher durch keine rationale Zahl hervorgebracht.
In dieser Eigenschaft, daß nicht alle Schnitte durch rationale Zahlen hervorgebracht werden, besteht die Unvollständigkeit oder Unstetigkeit des Gebietes R aller rationalen Zahlen.
Jedesmal nun, wenn win Schnitt (A1, A2) vorliegt, welcher durch keine rationale Zahl hervorgebracht wird, so erschaffen wir eine neue, eine irrationale Zahl , welche wir als durch diesen Schnitt (A1, A2) vollständig definirt ansehen; wir werden sagen, daß die Zahl diesem Schnitt entspricht, oder daß sie diesen Schnitt hervorbringt. Es entspricht also von jeßt ab jedem bestimmten Schnitt eine bestimmte rationale oder irrationale Zahl und wir sehen zwei Zahlen stets und nur dann [pag. 15] als verschieden oder ungleich an, wenn sie wesentlich verschiedenen Schnitten entsprecheb.
Um nun eine Grundlage für die Anordnung aller reellen, d.h. aller rationalen und irrationalen Zahlen zu gewinnen, müssen wir zunächst die Beziehungen zwischen irgend zwei Schnitte (A1, A2) und (B1, B2) untersuchen, welche durch irgend zwei Zahlen und ß hervorgebracht werden. Offenbar ist ein Schnitt (A1, A2) schon vollständig gegeven, wenn eine der beiden Classen, z.B. die erste A1, bekannt is, weil die zweite A2 aus allen nicht in A1 enthalteten rationalen Zahlen besteht, und die charakteristische Eigenschaft einer solchen ersten Classe A1 liegt darin, daß sie, wenn die Zahl a1 in ihr enthalten ist, auch alle kleineren Zahlen als a1 enthät. Vergleicht man nun zwei solche erste Classen A1, B1 mit einander, so kann es 1) sein, daß sie vollständig identisch sind, d.h., daß jede in A1 enthaltene Zahl a1 auch in B1 , und daß jede in B1 enthaltene Zahl b1 auch in A1 enthalten ist. In diesem Falle ist dann nothwendig auch A2 identisch mit B2, die beiden Schnitte sind vollständig identisch, was wir in Zeichnen durch = ß oder ß = andeuten.
Sind aber die beiden Classen A1, B1 nich identisch, so giebt es in der einen, z.B. in A1, eine Zahl a'1 = b'2, welche nicht in der anderen B1 enthalten ist, und welche sich folglich in B2 vorfindet; mithin sind gewiß alle in B1 enthaltenen Zahlen b1 kleiner als diese Zahl a'1 = b'2, und folglich sind alle Zahlen b1 auch in A1 enthalten.
Ist nun 2) diese Zahl a'1 die einzige in A1, welche nicht in B1 enthalten ist, so ist jede andere in A1 enthaltene Zahl a1 in B1 enthalten, und folglich kleiner als a'1, d.h. a'1 ist die größte unter allen Zahlen a1, mithin wird der Schnitt (A1, A2) durch die rationale Zahl = a'1 = b'2 hervorgebracht. Von dem anderen Schnitte (B1, B2) wissen wir schon, daß alle Zahlen b1 in B1 auch in A1 enthalten und kleiner als die Zahl a'1 = b'2 sind, welche in B2 enthalten ist; jede andere in B2 enthaltene [pag. 16] Zahl b2 muß aber größer als b'2 sein, weil sie sonst auch kleiner als a'1, also in A1 und folglich auch in B1 enthalten wäre; mithin ist b'2 die kleinste unter allen in B2 enthaltenen Zahlen, und folglich wird auch der Schnitt (B1, B2) durch dieselbe rationale Zahl ß = b'2 = a'1 = hervorgebracht. Die beiden Schnitte sind daher nur unwesentlich verschieden.
Giebt es aber 3) in A1 wenigstens zwei verschiedene Zahlen a'1 = b'2 und a''1 = b''2, welche nicht in B1 enthalten sind, so giebt es deren auch unendlich viele, weil alle die unendlich viele zwischen a'1 und a''1 liegenden Zahlen (§. 1. II.) offenbar in A1, aber nicht in B1 enthalten sind. In diesem Falle nennen wir die diesen beiden wesentlich verschiedenen Schnitten (A1, A2) und (B1, B2) ensprechenden Zahlen und ß ebenfalls verschieden von einander, und zwar sagen wir, daß größer als ß, daß ß kleiner als ist, was wir in Zeichen sowohl durch > ß, als durch ß < ausdrücken. Hierbei ist hervorzuheben, daß diese Definition vollständig mit der früheren zusammenfällt, wenn beide Zahlen , ß rational sind.
Die nun noch übrigen möglichen Fälle sind diese. Giebt es 4) in B1 eine und nur eine Zahl b'1 = a'2, welche nicht in A1 enthalten ist, so sind die beiden Schnitte (A1, A2) und (B1, B2) nur unwesentlich verschieden und sie werden durch eine und dieselbe rationale Zahl = a'2 = b'1 = ß hervorgebracht. Giebt es aber 5) in B1 mindestens zwei verschiedene Zahlen, welche nicht in A1 enthalten sind, so ist ß > , < ß.
Da hiermit alle Fälle erschöpft sind, so ergiebt sich, daß von zwei verschiedenen Zahlen nothwendig die eine die größere, die andere die kleinere sein muß, was zwei Möglichkeiten enthält. Ein dritter Fall ist unmöglich. Dies lag zwar schon in der Wahl des Comparativs (größer, kleiner) zur Bezeichnung der Beziehung zwischen , ß; aber diese Wahl ist erst jeßt nachträglich gerechtfertigt. Gerade bei solchen Untersuchungen hat man sich auf das Sorgfältige zu hüten, daß man selbst bei dem besten Willen, [pag. 17] ehrlich zu zein, durch eine voreilige Wahl von Ausdrücken, welche anderen schon entwickelten Vorstellungen entlehnt sind, sich nicht verleiten lasse, unerlaubte Uebertragungen aus dem einen Gebiete in das andere vorzunehmen.
Betrachtet man nun noch einmal genau den Fall > ß, so ergiebt sich, daß die kleinere Zahl ß, wenn sie rational ist, gewiß der Classe A1 angehöhrt; da es nämlich in A1 eine Zahl a'1 = b'2 giebt, welche der Classe B2 angehöht, so ist die Zahl ß, mag sie die größte Zahl in B1 oder die kleinste Zahl B2 sein, gewiß < a'1 und folglich in A1 enthalten. Ebenso ergiebt sich aus > ß, daß die größere Zahl , wenn sie rational ist, gewiß der Classe B2 angehouml;rt, weil > a'1 ist. Vereinigt man beide Betrachtungen, so erhält man folgendes Resultat: Wird ein Schnitt (A1, A2) durch die Zahl hervorgebracht, so gehört irgend eine rationale Zahl zu der Classe A1, oder zu der Classe A2, je nachdem sie kleiner oder größer ist als ; ist die Zahl selbst rational, so kann sie der einen oder der anderen Classe angehören.
Hieraus ergiebt sich endlich noch Folgendes. Ist > ß, giebt es also unendlich viele Zahlen in A1, welche nicht in B1 enthalten sind, so giebt es auch unendlich viele solche Zahlen, welche zugleich von und von ß verschieden sind; jede solche rationale Zahl c ist < , weil sie in A1 enthalten ist, und sie ist zugleich > ß, weil sie in B2 enthalten ist.


§. 5.

Stetigkeit des Gebietes der reellen Zahlen.

Zufolge der eben festgeseßten Unterscheidungen bildet nun das System R aller reellen Zahlen ein wohlgeordnetes Gebiet von einer Dimension; hiermit soll weiter nichts gesagt sein, als daß folgende Geseße herrschen.
I. Ist > ß, und ß > , so ist auch > . Wir wollen sagen, daß die Zahl ß zwischen den Zahlen , liegt. [pag. 18]
II. Sind , zwei verschiedene Zahlen, so giebt es immer unendlich viele verschiedene Zahlen ß, welche zwischen , liegen.
Ist eine bestimmte Zahl, so zerfallen alle Zahlen des Systems R in zwei Classen A1 und A2, deren jede unendlich viele Individuen enthält; die erste Classe A1 umfaßt alle die Zahlen 1 welche < sind, die zweite Classe A2 umfaßt alle die Zahlen 2, welche > sind; die Zahl selbst kann nach Belieben der ersten oder der zweiten Classe zugetheilt werden, und sie ist dann entsprechend die größte Zahl der ersten oder die kleinste Zahl der zweiten Classe. In jedem Falle ist die Zerlegung des Systems R in die beiden Classen A1, A2 von der Art, daß jede Zahl der ersten Classe A1 kleiner als jede Zahl der zweiten Classe A2 ist, und wir sagen, daß diese Zerlegung durch die Zahl hervorgebracht wird.
Der kürze halber, und um den Leser nich zu ermüden, unterdrücke ich die Beweise dieser Säße, welche unmittelbar aus den Definitionen des vorhergehenden Paragraphen folgen.
Außer diesen Eigenschaften besißt aber das Gebiet R auch Stetigkeit, d.h. es gilt folgender Saß:
IV. Zerfällt das System R aller reellen Zahlen in zwei Classen A1, A2 von der Art, daß jede Zahl 1 der Classe A1 kleiner ist als jede Zahl 2 der Classe A2, so existirt eine und nur eine Zahl , durch welche diese Zerlegung hervorgebracht wird.
Beweis. Durch die Zerlegung oder den Schnitt von R in A1 und A2 ist zugleich ein Schnitt (A1, A2) des Systems R aller rationalen Zahlen gegeben, welcher dadurch definirt wird, daß A1 alle rationalen Zahlen der Classe A1 und A2 alle übrigen rationalen Zahlen, d.h. alle rationalen Zahlen der Classe A2 enthält. Es sei die völlig bestimmte Zahl, welche diesen Schnitt (A1, A2) hervorbringt. Ist nun ß irgend eine von verschiedenen Zahl, so giebt es immer unendlich viele rationale Zahlen c, welche zwischen und ß liegen. Ist ß < , so ist c < ; mithin gehört c der [pag. 19] Classe A1 und folglich auch der Classe A1 an, und da zugleich ß < c ist, so gehört auch ß derselben Classe A1 an, weil jede Zahl in A2 größer ist als jede Zahl c in A1. Ist aber ß > , so ist c > ; mithin gehört c der Classe A2 und folglich auch der Classe A2 an, und da zugleich ß > c ist, so gehört auch ß derselben Classe A2 an, weil jede Zahl in A1 kleiner ist als jede Zahl c in A2. Mithin gehört jede von verschiedene Zahl ß der Classe A1 oder der Classe A2 an, je nachdem ß < oder ß > ist; folglich ist selbst entweder die größte Zahl in A2, d.h. ist eine und offenbar die einzige Zahl, durch welche die Zerlegung von R in die Classen A1, A2 hervorgebracht wird, was zu beweisen war.


§. 6.

Rechnungen mit reellen Zahlen.

Um irgend eine Rechnung mit zwei reellen Zahlen , ß auf die Rechnungen mit rationalen Zahlen zurückzuführen, kommt es nur darauf an, aus den Schnitten (A1, A2) und (B1, B2), welche durch die Zahlen und ß im Systeme R hervorgebracht werden, den Schnitt (C1, C2) zu definiren, welcher dem Rechnungsresultate entsprechen soll. Ich beschränke mich hier auf die Durchführung des einfachsten Beispieles, der Addition.
Ist c irgend eine rationale Zahl, so nehme man sie in die Classe C1 auf, enn es eine Zahl a1 in A1 und eine Zahl b1 in B1 von der Art giebt, daß ihre Summe a1 + b1 > c wird; alle andere rationalen Zahlen c nehme man in die Classe C2 auf. Diese Eintheilung aller rationalen Zahlen in die beiden Classen C1, C2 bildet offenbar einen Schnitt, weil jede Zahl c1 in C1 kleiner ist als jede Zahl c2 in C2. Sind nun beide Zahlen , ß rational, so ist jede in C1 enthaltene Zahl c1 < + ß, weil a1 < , b1 < ß, also auch a1 + b1 < + ß ist; wäre [pag. 20] ferner eine in C2 enthaltene Zahl c2 < + ß, also + ß = c2 + p, wo p eine positive rationale Zahl bedeutet, so wäre
c2 = ( - ½p) + (ß - ½p),
was im Widerspruch mit der Definition der Zahl c2 steht, weil - ½p eine Zahl in A1, und ß - ½p eine Zahl in B1 ist; folglich ist jede in C2 enthaltene Zahl c2 > + ß. Mithin wird in diesem Falle der Schnitt (C1, C2) durch die Summe + ß hervorgebracht. Man verstößt daher nicht gegen die in der Arithmetik der rationalen Zahlen geltende Definition, wenn man in allen Fällen unter der Summe + ß von zwei beliebigen reellen Zahlen , ß diejenige Zahl versteht, durch welche der Schnitt (C1, C2) hervorgebracht wird. Ist ferner nur eine der beiden Zahlen , ß, z.B. , rational, so überzeugt man sich leicht, daß es keinen Einfluß auf die Summe = + ß hat, ob man die Zahl in die Classe A1 oder in die Classe A2 aufnimmt.
Ebsenso wie die Addition lassen sich auch die übrigen Operationen der sogenannten Elementar-Arithmetik definiren, nämlich die Bildung der Differenzen, Producte, Quotienten, Potenzen, Wurzeln, Logarithmen, und man gelangt auf diese Weise zu wircklichen Beweisen von Säßen (wie z.B. 2.3 = 6), welche meines Wissens bisher nie bewiesen sind. Die Weitläufigkeiten, welche bei den Definitionen der complicirteren Operationen zu befürchten sind, liegen theils in der Natur der Sachem zum größten Theil aber, lassen sie sich vermeiden. Sehr nüßlich ist in dieser Beziehung der Begriff eines Intervalls, d.h. eines Systems A von rationalen Zahlen, welches folgende charakteristische Eigenschaft besißt: sind a und a' Zahlen des Systems A, so sind auch alle zwischen a und a' liegenden rationalen Zahlen in A enthalten. Das System R aller rationalen Zahlen, ebenso die beiden Classen eines jeden Schnittes sind Intervalle. Giebt es aber eine rationale Zahl a1, welche kleiner, und eine rationale Zahl a2, welche größer ist, als jede Zahl des Intervalls A, so heiße A ein endliches [pag. 21] Intervall; es giebt dann offenbar unendlich viele Zahlen von derselben Beschaffenheit wie a1, und unendlich viele Zahlen von derselben Beschaffenheit wie a2; daß ganze gebiet R zerfällt in drei Stücke, A1, A, A2, und es treten zwei vollständig bestimmte rationale Zahlen 1, 2 auf, welche resp. die untere und obere (oder die kleinere und größere) Grenze des Intervalls A genannt werden können; die untere Grenze 1 ist durch den Schnitt bestimmt, bei welchem die erste Classe durch das System A1 gebildet wird, und die obere Grenze 2 durch den Schnitt, bei welchem A2 die zweite Classe bildet. Von jeder rationalen oder irrationalen Zahl , welche zwischen 1 und 2 liegt, mag gesagt werden, sie liege innerhalb des Intervalls A. Sind alle Zahlen eines Intervalls A auch Zahlen eines Intervalls B, so heiße A ein Stück von B.
Noch viel größere Weitläufigkeiten scheinen in Aussicht zu stehen, wenn man dazu übergehen will, die unzähligen Säße der Arithmetik der rationalen Zahlen (wie z.B. den Saß (a + b)c = ac + bc) auf beliebige reelle Zahlen zu übertragen. Dem ist jedoch nicht so; man überzeugt sich bald, daß hier Alles darauf ankommt, nachzuweisen, daß die arithmetischen Operationen selbst eine gewisse Stetigkeit besißen. Was ich hiermit meine, will ich in die Form eines algemeinen Saßes einkleiden:
,,Ist die Zahl das Resultat einer mit den Zahlen , ß, ... angestellten Rechnung, und liegt innerhalb des Intervalls L, so lassen sich Intervalle A, B, C ... angeben, innerhalb deren die Zahlen , ß, ... liegen, und von der Art, daß das Resultat derselben Rechnung, in welcher die Zahlen , ß, ... durch beliebige Zahlen der Intervalle A, B, C... erfeßt werden, jedesmal eine innerhalb des Intervalls L liegende Zahl wird.'' Die abschreckende Schwerfälligkeit aber, welche dem Ausspruche eines solchen Saßes anklebt, überseugt uns, daß hier etwas geschehen muß, um der Sprache zu Hülfe zu kommen; dies wird in der That auf die vollkommenste Weise erreicht, wenn man die Begriffe [pag. 22] der veränderlichen Größen, der Functionen, der Grenzwehrte einführt, und zwar wird es das Zweckmäßigste sein, schon die Definitionen der einfachsten arithmetischen Operationen auf diese Begriffe zu gründen, was hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden kann.


§. 7.

Infinitesimal-Analysis.

Es soll hier nur noch zum Schluß der Zusammenhang beleuchtet werden, welcher zwischen unseren bisherigen Betrachtungen und gewissen Hauptsäßen der Infinitesimal-Analysis besteht.
Man sagt, daß eine veränderliche Größe x, welche successive bestimmte Zahlenwehrte durchläuft, sich einem festen Grenzwehrt nähert, wenn x im Laufe des Processes definitiv zwischen je zwei Zahlen zu liegen kommt, zwischen denen selbst liegt, oder was dasselbe ist, wenn die Differenz x - absolut genommen unter jeden gegebenen, von Null verschiedenen Werth definitiv herabsinkt.
Einer der wichtigsten Säße lautet folgendermaßen: ,,Wächst eine Größe x beständig, aber nicht über alle Grenzen, so nähert sie sich einem Grenzwehrt.''
Ich beweise ihn auf die folgende Art. Der Vorausseßung nach giebt es eine und folglich auch unendlich viele Zahlen 2 von der Art, daß stets x < 2 bleibt; ich bezeichne mit A2 das System aller dieser Zahlen 2, mit A1 das System aller anderen Zahlen 1; jede der leßteren hat die Eigenschaft, daß im Laufe des Processes definitiv x > 1 wird, mithin ist jede Zahl 1 kleiner als jede Zahl 2, und folglich existirt eine Zahl , welche entweder die größte in A1 oder die kleinste in A2 ist (§. 5. IV.). Das Erstere kann nicht der Fall sein, weil x nie aufhört, zu wachsen, also ist die kleinste Zahl in A2. Welche Zahl 1 man nun auch nehmen mag, so wird schließlich definitiv 1 < x < sein, d.h. x nähert sich dem Grenzwehrte . [pag. 23]
Dieser Saß ist äequivalent mit dem Princip der Stetigkeit, d.h. er verliert seine Gültigkeit, sobald man auch nur eine reele Zahl in dem Gebiete R als nicht vorhanden ansieht; oder anders ausgedrückt: ist dieser Saß richtig, so ist auch der Saß IV in §. 5 richtig.
Ein anderer, mit diesem ebenfalls äequivalenter Saß der Infinitesimal-Analysis, welcher noch öfter zur Anwendung kommt, lautet folgendermaßen: ,,Läßt sich in dem Aenderungsprocesse einer Größe x für jede gegebene positive Größe auch eine entsprechende Stelle angeben, von welcher ab x sich um Weniger als ändert, so nähert sich x einem Grenzwehrt.''
Diese Umkehrung des leicht zu beweisenden Saßes, daß jede veränderliche Größe, welche sich einem Grenzwehrt nähert, sich zuleßt um Weniger ändert, als irgend eine gegebene positive Größe, kann ebensowohl aus dem vorhergehenden Saße wie direct aus dem Princip der Stetigkeit abgeleitet werden. Ich schlage den leßteren Wef ein. Es sei eine beliebige positive Größe (d.h. > 0), so wird der Annahme zufolge ein Augenblick eintreten, von welchem ab x sich um weniger als ändern wird, d.h. wenn x in diesem Augenblick den Wehrt a besißt, so wird in der Folge stets x > a - und x < a + sein. Ich lasse nun einstweilen die ursprüngliche Annahme fallen, und halte nur die soeben bewiesene Thatsache fest, daß alle späteren Wehrte der Veränderlichen x zwischen zwei angebbaren, endlichen Wehrten liegen. Hierauf gründe ich eine doppelte Eintheilung aller reellen Zahlen. In das System A2 nehme ich eine Zahl 2 (z.B. a + ) auf, wenn im Laufe des Processes definitiv x < 2 wird; in das System A1 nehme ich jede nicht in A2 enthaltene Zahl auf; ist 1 eine solche Zahl, so wird, wie weit auch der Proceß vorgeschritten sein mag, es noch unendlich oft eintreten, daß x > 1 ist. Da jede Zahl 1 kleiner ist als jede Zahl 2, so giebt es eine völlig bestimmte Zahl , welche diesen Schnit (A1, A2) des Systems R hervorbingt, und welch ich den oberen Grenzwehrt [pag. 24] der stets endlich bleibenden Veränderlichen x nennen will. Ebenso wird durch das Verhalten der Veränderlichen x ein zweiter Schnitt (B1, B2) des Systems R hervorgebracht: eine Zahl ß1 (z.B. a - ) wird in B1 aufgenommen, wenn im Laufe des Processes definitiv x > ß1 wird; jede andere, in B2 aufzunehmende Zahl ß2 hat die Eigenschaft, daß niemals definitiv x > ß2, also immer noch unendlich oft x < ß2 wird; die Zahl ß, durch welche dieser Schnitt hervorgebracht wird, heiße der untere Grenzwehrt der Veränderlichen x. Die beiden Zahlen , ß sind offenbar auch durch die folgende Eigenschaft characterisirt: ist eine beliebig kleine positive Größe, so wird stets definitiv x < + und x > ß - , aber niemals wird definitiv x < - , und niemals definitiv x > ß + . Nun sind zwei Fälle möglich. Sind und ß verschieden von einander, so ist nothwendig > ß, weil stets 2 > ß1 ist; die Veränderliche x oscillirt und erleidet, wi weit der Proceß auch vorgeschritten sein mag, immer noch Aenderungen, deren Betrag den Wehrt ( - ß) - 2 übetrifft, wo eine beliebig kleine positive Größe bedeutet. Die ursprüngliche Annahme, zu der ich erst jeßt zurückkehre, steht aber im Widerspruch mit dieser Consequenz; es bleibt daher nur der zweite Fall = ß übrig, und da schon bewiesen ist, daß, wie klein auch die positive Größe sien mag, immer definitiv x < + und x > ß - wird, so nähert sich x dem Grenzwehrt , was zu beweisen war.
Diese Beispiele mögen genügen, um den Zusammenhang zwischen dem Princip der Stetigkeit und der Infinitesimal-Analysis darzulegen.



Voetnoten:

1) Vorlesungen über Zahlentheorie von P.G. Lejeune Dirichlet. Zweite Auflage. §. 159.

2) Es ist also im Folgenden immer das sogenannte ,,algebraische'' größer und kleiner sein gemeint, wenn nich das Wort ,,absolut'' hinzugefügt wird.

3) Der scheinbare Vorzug der Allgemeinheit dieser Definition der Zahl schwindet sofort dahin, wenn man an die complexen Zahlen denkt. Nach meiner Auffassung kann umgekehrt der Begriff des Verhältnisses zwischen gleichartigen Größen erst dann klar entwickelt werden, wenn die irrationalen Zahlen schon eingeführt sind.